ewg[æ]n raht
für Chor.
UA 7.10.2021, Kammerchor der Künste Berlin, Maike Bühle.
Erschienen 12/2021 auf „Ros“ beim Label betont
Wenn wir Musik so sehr verinnerlicht haben wie den Praetorius’schen Satz von „Es ist ein Ros entsprungen“, dann fallen uns die ursprünglich merkwürdigen Aspekte daran gar nicht mehr auf. Der Taktwechsel im Abgesang oder auch das plötzliche D-Dur im „Win-ter“ sind dank unseres Antizipierens gar nicht mehr so unerwartet, auch über einen „ewigen Rat“ wundern wir uns nicht. Als Kind war ich immer erstaunt darüber, dass ich offenbar der Einzige war, dem das komisch vorkam. Die Erwachsenen hatten die Musik so verinnerlicht, dass sie völlig unbeirrt fortfuhren.
Gerade in solchen Fällen lohnt es sich, „Dinge so zu betrachten als sähe man sie zum ersten Mal“ (Vilém Flusser). So schneidet dieses kleine Interludium wie mit einer Schere ein bisschen Material aus dem Praetorius-Satz heraus: die Vokale zu Beginn („Es ist ein Ros“ wird zu „ä-i-a-o“), den seltsam klingenden „ewgen raht“ und den ikonographischen Terzgang im Alt bei „bracht“. Ein sprichwörtlicher Magnet mit Nord- und Südpol an Anfang und Ende des Stückes separiert Vokale und Konsonanten, sodass zunächst der Fokus auf Nuancen der Vokalgestaltung liegt. Mit kleinen Jodlern wird wie mit einem Diaprojektor der Vokal gewechselt, die Zusammensetzung der Vokale wird mit Prozentzahlen angegeben. Die Kunst liegt für den Chor darin, sich zu einigen, was es nun heißt, 60% „ä“ mit 40% „ö“ zu mischen. Im zweiten Teil bleiben nur die Konsonanten des uns bekannten Texts übrig, durch Überartikulation artifiziell verzerrt, dem „ewgen Raht“ in Gedanken nachhängend.
Das Stück versteht sich so als Innehalten, als auskomponierter Verarbeitungsprozess, als retardierendes Moment zwischen den uns vertrauten Strophen, das Material in neuer Collage, und mit einer Verspieltheit gegenüber dem ursprünglich Verrückten am 400 Jahre alten Satz.